Rhythm & Blues

Die Bedeutung des Begriffs, geprägt Anfang der 40er Jahre von Jerry Wexler, hat sich bis heute ständig gewandelt. Zunächst nur ein Ersatzwort für "Race Music", war Rhythm & Blues in den 40er Jahren die Bezeichnung für sämtliche afroamerikanische Musik außer dem Jazz, also für die Musik der schwarzen Unterschicht Amerikas. In den 60er Jahren wich der Begriff dem Marktnamen Soul, und heute bezeichnet man mit "R&B" eine Form zeitgenössischer, schwarzer Popmusik. Rhythm & Blues ist also alles andere, als ein einheitlicher Begriff für eine einheitliche Musikrichtung.

Ende der 40er Jahre entwickelte sich, im Zuge der Urbanisierung der schwarzen Landbevölkerung, ein einheitlicher, großstädtischer Stil heraus. Viele Rhythm & Blues Combos waren zunächst nichts anderes, als verkleinerte schwarze Bigbands. Häufig waren es Sextette oder Quintette. Die kleineren Besetzungen verdankten sich dem Kostenvorteil gegenüber den Bigbands, die für ärmere Clubs nicht mehr bezahlbar waren. Die geringere Lautstärke wurde durch die damals neue elektrische Gitarre kompensiert. Weiterhin kristallisierte sich ein Pianostil heraus, bei dem die linke Hand boogieartige Bassbegleitungen, die Rechte schnelle triolisch geschlagene Doppelgriffe spielte. Anders als im Swing, trat der solistische Anteil der Bläser zurück. Besonders das Altsaxofon fungierte zunehmend als Rhythmusinstrument und spielte Shuffelgrooves. Reine Instrumentalstücke waren selten. Sänger und Sängerinnen (der Frauenanteil im Rhythm & Blues war deutlich höher als im Rock 'n' Roll) sangen häufig mit gospelartigen Verzierungen. Nicht wenige Rhythm & Blues Texte spielten mit sexuellen Anspielungen und Zweideutigkeiten.

Rhythm & Blues galt für das etablierte Amerika als anzüglich und vulgär, schlicht als inakzeptable Untergrundmusik. Indes gelang es dem Rhythm & Blues, eine eigene Musikindustrie zu etablieren, die auch größere Labels wie Atlantic Records unterhalten konnte, wo der Produzent Jerry Wexler diese Musik wie kein zweiter förderte.

Wenn auch der Rhythm & Blues nicht uneingeschränkt unter Rock 'n' Roll einzuordnen ist, so teilt er doch mit diesem eine große Schnittmenge, in die Interpreten wie der frühe Ray Charles, Bo Diddley, natürlich auch Chuck Berry, Fats Domino, Little Richard, LaVern Baker und viele andere hineingehören. In Städten wie Chicago oder New Orleans wurden dementsprechend die beiden Begriffe "Rock 'n' Roll" und "Rhythm & Blues" auch lange als Synonyme verwendet. Und selbst denjenigen Rock-'n'-Roll-Spielarten, die eindeutig nicht mehr zum Rhythm & Blues gehören, von Rockabilly bis zum Highschool Rock 'n' Roll, diente der Rhythm & Blues als wesentlicher Inspirationspool. Man kann also mit Recht behaupten, dass der Rock 'n' Roll eine Weiterentwicklung, häufig auch eine "Verweißung" des Rhythm & Blues war, mit der nur Teile der schwarzen Jugend sich identifizieren konnten.

Besonders frustrierend wirkte dabei der Umstand, daß weiße Künstler wie Presley mit schwarzen Coverversionen Millionen verdienten, während Künstlern wie Big Mama Thornton (Autorin von "Hound Dog") der Erfolg beim Massenpublikum versagt blieb. Und selbst die erfolgreichen schwarzen Musiker wie Little Richard und Bo Diddley wurden vielfach um den Ertrag ihrer Leistung betrogen (Bo Diddley verdiente an seinen großen Hits in den 50er Jahren exakt 0,-- US Dollar.)

Nur leicht zeitversetzt zum Siegeszug des Rock 'n' Roll wurde daher von schwarzen Musikern und Managern der gezielte Gegenversuch gestartet, den Rhythm & Blues zu kommerzialisieren, ohne ihn dabei aus schwarzen Händen zu geben. Unter dem Marktnamen Soul (Musiker sprachen in der Regel weiter von Rhythm & Blues) wurden neue schwarze Talente auf hohem Niveau ausgebildet und dann breit vermarktet. Instrumental, tänzerisch, kompositorisch und vor allem stimmlich erreichte der Rhythm & Blues in der Soul-Ära seine höchste Blüte. Tatsächlich gelang es mit dem Soul, einen weltweiten Boom auszulösen, der auch das zahlungskräftige weiße Publikum erfasste. Frische Talente mit gewaltigen Stimmen stürmten die Charts, die dank der kommerziellen Konzeption noch heute ein Begriff sind (Martha Reeves, Aretha Franklin, Ike & Tina Turner, Stevie Wonder, Otis Redding und viele mehr). Zwar handelte es sich bei diesem kommerzialisierten Rhythm & Blues um Populärmusik, doch wurden die schwarzen Wurzeln wie Blues und Gospel keinesfalls verwässert, sondern bewußt reaktiviert. Schließlich verfolgte man das Ziel, eine für Weiße schwer kopierbare Musik zu kreeiren. Im Zentrum dieser Entwicklung stand das Motown Label. In den 70er Jahren schließlich verblassten die originär schwarzen Elemente wieder und die schwarze Popmusik wurde zur Disco-Musik. In den 80er Jahren stellten schwarze Künstler wie Whitney Houston ihre vorzüglichen Gesangstimmen in den Dienst von eher belangloser Popmusik, die sie damit zu einem gewissen Grad aufwerteten. Der Begriff Soul kam wieder ins Gespräch. Mit Rhythm & Blues hatte diese Musik jedoch nicht mehr viel zu tun.

Vertreter (des klassischen Rhythm & Blues): Wynonie Harris, Big Joe Turner, Etta James, Clyde McPhatter, Bobby Blue Bland, LaVern Baker